Gemeinsame Geschichte

Objekte transkultureller Verflechtungen

Aus dem Hildesheimer Dom und den örtlichen Kirchen sind im Museum zahlreiche Objekte erhalten, die Schmuckelemente oder Materialien aus weit entfernten Regionen enthalten oder in einer importierten Technik hergestellt wurden.

Am Ende des 1. Jahrtausends waren die vom Islam geprägten Regionen des südlichen und östlichen Mittelmeerraums die maßgeblichen Zentren einer hochstehenden Kultur mit florierender Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Auf diese Gegenden und großen Metropolen mit Bewohner:innen verschiedener Religionen wurde von Hildesheim mit einem bewundernden Blick geschaut. An zahlreichen Objekten ist erkennbar, dass an ihrer Kultur teilzuhaben versucht wurde. Aber auch aus dem westlichen, nördlichen und östlichen Europa sind Werke nach Hildesheim gelangt. Darüber hinaus stammen verwendete Materialien sogar aus Afrika oder vom Nordpol.

Über eine lange Zeit (10. bis 15. Jahrhundert) wurden die Objekte dem Hildesheimer Dom und den Kirchen von sehr wohlhabenden Personen, Bischöfen, Geistlichen, Fürsten und Bürgern – oftmals Männer aber auch Frauen – geschenkt. Über Herkunft und Erwerb dieser Gegenstände ist kaum etwas bekannt. Vermutlich wurden einige als Geschenke oder Handelsware nach Hildesheim gebracht, bei anderen ist auch eine Entwendung nicht auszuschließen. In den Kirchenschätzen wurden sie zur zeremoniellen Nutzung über Jahrhunderte aufbewahrt, während sie in anderen Sammlungen meist verloren gingen.

Anhand der Werke kann gefragt werden: Welche Wege haben sie zurückgelegt? Welche Funktionen hatten die Objekte in unterschiedlichen Zusammenhängen? Wie wurden sie wahrgenommen?

Beispiele kultureller Verflechtungen

Die hier in einer Auswahl vorgestellten Objekte zeigen, wie bereits vor 1.000 Jahren Objekte die Kulturen über die Grenzen von Religionen und Sprachen sowie entfernte Regionen miteinander verbanden, in Hildesheim zusammenfanden und den Hildesheimer Domschatz bereicherten. An ihnen ist eine gemeinsame Geschichte erfahrbar.

Abbasidische Schachfigur auf dem sogenannten Keilförmigen Reliquiar aus der 2. Hälfte des 10. Jahrhundert

Ein Reliquiar aus dem 10. Jahrhundert ist eines der ältesten des Hildesheimer Domschatzes, in den nachfolgenden Jahrhunderten wurde es mehrfach verändert. Es ist mit zwei Objekten aus vom Islam geprägten Regionen verziert – oben wird es von einer Schachfigur aus Bergkristall bekrönt und unten rechts trägt ein roter Stein eine arabische Inschrift. Beide stammen vermutlich aus dem Reich der Abbasiden, das im 10. Jahrhundert mit Bagdad als Hauptstadt die arabische Halbinsel sowie die Gebiete des heutigen Irak und Iran umfasste. Ein derart geschliffener Bergkristall war in Mitteleuropa eine große Kostbarkeit, das Schachspiel selbst wurde ebenfalls aus dem östlichen Mittelmeerraum aufgenommen. Der spiegelverkehrt beschriftete Stein benennt in der oberen Zeile den Namen: Muḥammad ibn Ismāʿīl (Muḥammad Sohn des Ismāʿīl). Vielleicht wurde der Stein zuvor als Siegel verwendet. In Hildesheim konnte die Schrift vermutlich nicht gelesen werden.

Den zentralen Behälter eines Reliquiars bildet eine polierte Kokosnuss. Vermutlich aus den Tropen Asiens oder Afrikas gelangte dieses besondere Material nach Mitteleuropa. Spuren am oberen und unteren Ende der Nuss lassen erkennen, dass sie zunächst in einem anderen Gefäß eingebaut war und erst später zum Hildesheimer Reliquiar umgebaut wurde. Bekrönt wird das Gefäß von einer kleinen Figur des Apostel Andreas auf einem Hügel, der mit Glasfluss verziert ist. In dieser Technik wurden um 1400 in Paris Kunstwerke hergestellt. Das Wappen am Fuß lässt vermuten, dass das Reliquiar als Geschenk eines Hildesheimer Arztes, der in Paris studierte, in die Kirche Heilig Kreuz gelangte. Der Weg der Kokosnuss führte aus den Tropen Asiens oder Afrikas vermutlich über Paris nach Hildesheim.

Das Dommuseum ist eine Einrichtung des Bistums Hildesheim und damit der katholischen Kirche. Sie möchte einen Beitrag leisten zum gesellschaftlichen Zusammenleben. Die im Hildesheimer Dom gesammelten Objekte sollen einer vielfältiger werdenden Gesellschaft die Erfahrung einer gemeinsamen Geschichte und der Verflochtenheit der Kulturen ermöglichen. In der Ausstellung ‚Islam in Europa. 1000–1250‘ (2022/23) hat sich das Dommuseum erstmals ausführlich mit dem Thema der kulturellen Verflechtungen befasst und wird diese in den kommenden Jahren weiter in die Sammlungspräsentation einarbeiten.

Dieses Projekt ist gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und Teil des Modellprojekts ‚Verflechtungen – Kunst aus vom Islam geprägten Regionen in Kirchenschätzen‘ gemeinsam mit den Dommuseen in Bamberg, Essen und Paderborn.

Im Museum liegt eine viersprachige Broschüre (arabisch, deutsch, englisch und türkisch) für die Besucher:innen aus. Sie führt zu 24 Objekten, an denen eine gemeinsame Geschichte erfahrbar wird. Die dabei vorgestellte Betrachtung folgt der Sichtweise europäischer kunsthistorischer Forschung. Zu den Objekten lassen sich jedoch auch alternative Geschichten erzählen – etwa aus den Perspektiven der Herkunftsregionen oder ihrer Wegstationen.