Gemeinsame Geschichte im Dommuseum Hildesheim

Objekte transkultureller Verflechtungen

Abbasidische Schachfigur auf dem sogenannten Keilförmigen Reliquiar, 2. Hälfte 10. Jahrhundert

Abbasidische Schachfigur auf dem sogenannten Keilförmigen Reliquiar, 2. Hälfte 10. Jahrhundert

Pfauenstoff aus dem Godehardschrein, um 1100

Pfauenstoff aus dem Godehardschrein, um 1100

Sog. Kostbares Evangeliar, um 1015

Sog. Kostbares Evangeliar, um 1015; Foto: Monheim/Dommuseum

Aus dem Hildesheimer Dom und den örtlichen Kirchen sind im Museum zahlreiche Objekte erhalten, die Schmuckelemente oder Materialien aus weit entfernten Regionen enthalten oder in einer importierten Technik hergestellt wurden.

Am Ende des 1. Jahrtausends waren die vom Islam geprägten Regionen des südlichen und östlichen Mittelmeerraums die maßgeblichen Zentren einer hochstehenden Kultur mit florierender Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Auf diese Gegenden und großen Metropolen mit Bewohner:innen verschiedener Religionen wurde von Hildesheim mit einem bewundernden Blick geschaut. An zahlreichen Objekten ist erkennbar, dass an ihrer Kultur teilzuhaben versucht wurde. Aber auch aus dem westlichen, nördlichen und östlichen Europa sind Werke nach Hildesheim gelangt. Darüber hinaus stammen verwendete Materialien sogar aus Afrika oder vom Nordpol.

Über eine lange Zeit (10. bis 15. Jahrhundert) wurden die Objekte dem Hildesheimer Dom und den Kirchen von sehr wohlhabenden Personen, Bischöfen, Geistlichen, Fürsten und Bürgern – oftmals Männer aber auch Frauen – geschenkt. Über Herkunft und Erwerb dieser Gegenstände ist kaum etwas bekannt. Vermutlich wurden einige als Geschenke oder Handelsware nach Hildesheim gebracht, bei anderen ist auch eine Entwendung nicht auszuschließen. In den Kirchenschätzen wurden sie zur zeremoniellen Nutzung über Jahrhunderte aufbewahrt, während sie in anderen Sammlungen meist verloren gingen.

Anhand der Werke kann gefragt werden: Welche Wege haben sie zurückgelegt? Welche Funktionen hatten die Objekte in unterschiedlichen Zusammenhängen? Wie wurden sie wahrgenommen?

Im Museum liegt eine viersprachige Broschüre (arabisch, deutsch, englisch und türkisch) für die Besucher:innen aus. Sie führt zu 24 Objekten, an denen eine gemeinsame Geschichte erfahrbar wird. Die dabei vorgestellte Betrachtung folgt der Sichtweise europäischer kunsthistorischer Forschung. Zu den Objekten lassen sich jedoch auch alternative Geschichten erzählen – etwa aus den Perspektiven der Herkunftsregionen oder ihrer Wegstationen.

Das Dommuseum ist eine Einrichtung des Bistums Hildesheim und damit der katholischen Kirche. Sie möchte einen Beitrag leisten zum gesellschaftlichen Zusammenleben. Die im Hildesheimer Dom gesammelten Objekte sollen einer vielfältiger werdenden Gesellschaft die Erfahrung einer gemeinsamen Geschichte und der Verflochtenheit der Kulturen ermöglichen. In der Ausstellung ‚Islam in Europa. 1000–1250‘ (2022/23) hat sich das Dommuseum erstmals ausführlich mit dem Thema der kulturellen Verflechtungen befasst und wird diese in den kommenden Jahren weiter in die Sammlungspräsentation einarbeiten.

Dieses Projekt ist gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und Teil des Modellprojekts ‚Verflechtungen – Kunst aus vom Islam geprägten Regionen in Kirchenschätzen‘ gemeinsam mit den Dommuseen in Bamberg, Essen und Paderborn.

Afrika vom Leuchterpaar mit Kontenenten, drittes Viertel 12. Jahrhundert

Afrika vom Leuchterpaar mit Kontenenten, drittes Viertel 12. Jahrhundert

Senmuven-Aquamanile, 2. Drittel 12. Jahrhundert

Senmuven-Aquamanile, 2. Drittel 12. Jahrhundert; Foto: Monheim/Dommuseum

Kokosnuss-Reliquiar, frühes 15. Jahrhundert (?); Foto: Monheim/Dommuseum

Kokosnuss-Reliquiar, frühes 15. Jahrhundert (?); Foto: Monheim/Dommuseum

Ein Reliquiar aus dem 10. Jahrhundert ist eines der ältesten des Hildesheimer Domschatzes, in den nachfolgenden Jahrhunderten wurde es mehrfach verändert. Es ist mit zwei Objekten aus vom Islam geprägten Regionen verziert – oben wird es von einer Schachfigur aus Bergkristall bekrönt und unten rechts trägt ein roter Stein eine arabische Inschrift. Beide stammen vermutlich aus dem Reich der Abbasiden, das im 10. Jahrhundert mit Bagdad als Hauptstadt die arabische Halbinsel sowie die Gebiete des heutigen Irak und Iran umfasste. Ein derart geschliffener Bergkristall war in Mitteleuropa eine große Kostbarkeit, das Schachspiel selbst wurde ebenfalls aus dem östlichen Mittelmeerraum aufgenommen. Der spiegelverkehrt beschriftete Stein benennt in der oberen Zeile den Namen: Muḥammad ibn Ismāʿīl (Muḥammad Sohn des Ismāʿīl). Vielleicht wurde der Stein zuvor als Siegel verwendet. In Hildesheim konnte die Schrift vermutlich nicht gelesen werden.

Bereits von Bischof Bernward von Hildesheim (regierte 993–1022) wurde wahrscheinlich um das Jahr 1000 ein Gewand bei Gottesdiensten getragen, das aus einer gold-gelben Seide genäht ist. Sie zieren als wiederholtes Muster zwei gegenüberstehende Vögel. Diese Seide gilt als Spitzenprodukt byzantinischer Seidenweberei, die in Konstantinopel (heute: Istanbul) produziert wurde. Aus China gelangte die Kenntnis der Seidenproduktion bereits im 6. Jahrhundert über Persien nach Byzanz. In Mitteleuropa hingegen konnte Seide damals nicht hergestellt werden und musste daher aus dem Mittelmeerraum eingekauft werden.

Ein kostbares Evangelienbuch war eine Schenkung von Bischof Bernward für den Altar der Klosterkirche St. Michael in Hildesheim, wo er sein Grab geplant hatte. Auf der Vorderseite ist ein byzantinisches Elfenbeinrelief mit Christus zwischen Maria und Johannes dem Täufer eingefügt, das in Konstantinopel hergestellt wurde. Auf der Rückseite ahmt das Silberrelief mit der Darstellung der stehenden Gottesmutter mit Kind eine byzantinische Vorlage nach. Während das Elfenbeinrelief auf der Vorderseite aus dem ursprünglichen Zusammenhang eines mehrteiligen Objektes herausgelöst und neu montiert wurde ist auf der Rückseite eine byzantinische Bildvorlage in Niedersachsen imitiert worden. Auf unterschiedliche Weise wird so die Kultur des Mittelmeerraumes integriert.

Im Schrein des heiligen Godehard im Hildesheimer Dom waren nach dessen Heiligsprechung 1132 dessen körperliche Überreste in Seidenstoffe verpackt. Ein besonders prachtvoller Seidenstoff zeigt radschlagende doppelköpfige Pfauen mit ausgebreiteten Flügeln. Die ursprüngliche Farbigkeit war geprägt durch kräftiges Rot und Gelb vor dunkelblauem Grund. Das Gewebe wurde vermutlich im ausgehenden 11. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Iran oder Irak hergestellt.

In Hildesheim wurden aus Bronze zahlreiche Gefäße hergestellt, die der Handwaschung dienten. Bereits diese Funktion wurde aus Persien und dem östlichen Mittelmeerraum übernommen. Ein solches Gefäß hat die Form eines Tieres mit kugelförmigem Körper, emporgestrecktem Kopf, Flügeln und zwei Beinen. Wasser wurde aus dem Schnabel gegossen, der Schweif über dem Rücken diente als Griff. Das Tierwesen des Senmurven wurde aus der vor-islamischen Kultur Persiens und vermittelt durch Textilien aus Konstantinopel aufgenommen. Bereits in der persischen Literatur wurde es als Schutzvogel beschrieben und stand im sasanidischen Reich (Gebiete des heutigen Irak und Iran) für Ruhm, Wohlstand und Glück. Die sorgfältig gravierte Ornamentik der Oberfläche erinnert zudem an das Dekor von Bronzewerken aus vom Islam geprägten Regionen.

Zwei einzigartige Leuchter zeigen ein mitteleuropäisches Verständnis der Erdteile und der Wissenschaften im 12. Jahrhundert. Auf einem Leuchter sitzen drei Frauenfiguren, die die damals bekannten Erdteile darstellen und entsprechend beschriftet sind: ‚ASIA‘ mit einem gefüllten Gefäß und der Umschrift ‚DIVITIE‘ (Reichtum). ‚EVROPA‘ mit Schwert und Schild, das die Inschrift ‚BELLVM‘ (Krieg) trägt. ‚AFRICA‘ mit einem aufgeschlagenen Buch, auf dem ‚SCIENTIA‘ (Wissenschaft) zu lesen ist. Die Wissenschaft ist damit den arabischsprachigen, vom Islam geprägten Regionen in Nordafrika zugeordnet, wo in den Städten große Bibliotheken für Gelehrte existierten. Auf dem zweiten Leuchter werden die Wissenschaften selbst thematisiert.

Den zentralen Behälter eines Reliquiars bildet eine polierte Kokosnuss. Vermutlich aus den Tropen Asiens oder Afrikas gelangte dieses besondere Material nach Mitteleuropa. Spuren am oberen und unteren Ende der Nuss lassen erkennen, dass sie zunächst in einem anderen Gefäß eingebaut war und erst später zum Hildesheimer Reliquiar umgebaut wurde. Bekrönt wird das Gefäß von einer kleinen Figur des Apostel Andreas auf einem Hügel, der mit Glasfluss verziert ist. In dieser Technik wurden um 1400 in Paris Kunstwerke hergestellt. Das Wappen am Fuß lässt vermuten, dass das Reliquiar als Geschenk eines Hildesheimer Arztes, der in Paris studierte, in die Kirche Heilig Kreuz gelangte. Der Weg der Kokosnuss führte aus den Tropen Asiens oder Afrikas vermutlich über Paris nach Hildesheim.

Die hier in einer Auswahl vorgestellten Objekte zeigen, wie bereits vor 1.000 Jahren Objekte die Kulturen über die Grenzen von Religionen und Sprachen sowie entfernte Regionen miteinander verbanden, in Hildesheim zusammenfanden und den Hildesheimer Domschatz bereicherten. An ihnen ist eine gemeinsame Geschichte erfahrbar.